Xontormia Express 0947
Xontormia Express Ausgabe 3
Erste Woche des Monats Sturmmond im Jahre 29 des zweiten Zeitalters
(mehr oder weniger) Aktuelles Zeitgeschehen
Eine neue Perspektive
Es ist ein warmer Tag am Ende des Sommers des Jahres 29 des zweiten Zeitalters auf der Insel Jaw, am westlichen Rand der 15. Welt gelegen. Vielleicht auch in der Mitte, die Geographen waren noch immer am Streiten, als die Welt aufhörte zu wachsen und die Zählung der Welten an Bedeutung verlor. Es ist eine hübsche durchschnittliche Insel, wie sie sich jeder Herrscher erträumt. Viele Ebenen und Berge gibt es, dazu eine kleine Prise exotischerer Landschaften und im Osten die wärmende Feuerwand. Gigantische Zitadellen stehen in fast jeder Region, als Zeugen des Rohstoffreichtums. Dennoch wirkt alles unwirklich und banal. Die ehrwürdigen Festungen nur Zeugen vergangener Glorie, die zahlreichen Minen verwaist, die Tavernen heruntergekommen und die Bauern stumpfe Essensproduzenten.
Vielleicht trügt der Schein. Vielleicht ist seine Wahrnehmung verfälscht. Vielleicht kann sein Verstand solch gewöhnliche Dinge nicht mehr würdigen.
Wenn es ihn an sein geliebtes Meer zieht trennt ihn ein hölzerner Wall vom Wasser. Die Flotte ist dicht an dicht geparkt und belegt dennoch den Strand kilometerweit in beide Richtungen. Falls er auf einen der umliegenden Berge stiege und ins Tal schaute, sähe er den Boden vor Zelten nicht. Das Feldlager der Armee besteht schon seit Monaten, seitdem es im Westen mehr Land als Siedler gibt, weil der Krieg ein überraschendes Ende fand und keine Kämpfer mehr gebraucht wurden, und es ist gigantisch.
Dominique ist gut im Umgang mit Zahlen, wie es sich für einen Maître de la monnaie gehört, aber als er einmal aus Spaß überschlagsweise die Unterhaltskosten für die versammelten Soldaten und Spezialisten berechnen wollte, wurde ihm schwindelig. Zum Glück muss er sich um solche Dinge nicht kümmern, denn das Monopol sorgt gut für seine Untertanen. Die Handelsgilde presst den Bauern alles ab was für ihre Arbeit nicht gebraucht wird, und regelmäßig kommen Konvois mit Versorgungsgütern aus dem Osten an, um die Truppen bei Laune zu halten. Als seine alte Kampfgefährtin Emilie, zwar nur die Nummer vier ihres kleinen Ordens aber hier nicht ohne Einfluss, sich lautstark über die unzureichende Zuteilung von Mitteln beklagte, fuhren vom nächsten Tag an eine Woche lang in einem fort Karren vor ihrem Zimmer in der Akademie vor und luden Schätze aus. Mittlerweile kommt sie kaum noch zu ihren Studien, da sie stets kontrollieren muss ob auch nichts entwendet wurde.
Die einfachen Soldaten freilich, und als solcher sieht er sich trotz seiner hervorgehobenen Stellung gerne, leben ohne Not aber bescheiden. Er könnte glücklich sein. Er sollte glücklich sein, als Teil des Ganzen. Aber er ist es nicht. Die tägliche Routine frisst die Stunden, aber es bleiben zu viele übrig in denen er seinen Gedanken nachhängt. Manchmal ist die Trägheit beinahe überwältigend. Wo soll man hin, wenn es überall gleich aussieht. Egal wie weit man wandert, die gleichen gelangweilten behelmten Gesichter die kurz hoffnungsvoll aufblicken und dann wieder in ihrer üblichen Tätigkeit nachgehen.
Die Wanderung nach Bova war eine gute Idee. Zwar verliert er dadurch etliche Tage seines Studiums und irgendein alter Skriptor des gigantischen Verwaltungsapparates wird ihm das schon bald vorhalten, aber er musste einfach raus. Er ist glücklich, die Enge und den Lärm der letzten Monate zu vergessen und eins mit der Natur zu sein. Hier auf dem Gletscher ist die beruhigende Präsenz des Wassers um ihn herum. Gefroren in der Nähe, flüssig in der Ferne unter ihm, und sonst nichts. Tagsüber flüstern die Wellen im Wind und nachts die Sterne. Er genießt das Rauschen im Hintergrund und das sich Verlieren in der Unendlichkeit und er ist ganz und gar nicht vorbereitet auf das, was in der dritten Nacht passiert, während er am Hang liegt und in die Sterne schaut.
Die Nacht ist noch jung und alles um ihn herum bleibt dunkel, doch
die Milchstraße beginnt zu verblassen. Auch die anderen Sterne werden
langsam schwächer, vor der Schwärze des Himmels. Müsste der Mond nicht
sichtbar sein? Er kann sich nicht erinnern. Ein Lichtpunkt nach dem
anderen erlischt über ihm, und obwohl er gewöhnlich gut im Dunklen
sieht, kann er seine Umgebung nicht mehr erkennen. Seine Hand tastet
neben ihm nach dem Eis auf dem er liegt und er greift nach der
beruhigenden harten Oberfläche. Es tut gut, eine Verbindung zur Welt
zu spüren. Dann jedoch zerbröselt auch diese, wie ein Klumpen Sand
der ihm durch die Finger rinnt.
Auch das Rauschen des Meeres ist nun verstummt, wie er bemerkt. Seine
Sinne melden nichts mehr. Kein Licht, kein Geruch, kein Geräusch. Er
wartet was kommt, aber es kommt nichts.
Plötzlich ergreift ihn Panik. Ist er tot? Nein, er spürt jetzt wieder
etwas. Sein Herz schlägt, erstaunlich langsam, er atmet ein und aus.
"Was...?" will er gerade ausrufen, nur um zu prüfen ob er noch eine
Stimme hat, als ein neuer Stern über ihm aufleuchtet. Der winzige,
schwache Punkt bringt wieder Leben in seine Welt.
Und er bleibt nicht lange alleine. Nach und nach leuchten weitere
Sterne in der Nähe auf und bevölkern einen kleinen Teil des Himmels,
wenngleich der Großteil schwarz bleibt. Irgendetwas stimmt jedoch
nicht mit den neuen Sternen. Zuerst fällt ihm nur die Farbe auf. Grün.
Blau. Rot. Alle möglichen Farben leuchten ihm entgegen. Es kommt aber
noch mehr. Nicht alle Sterne blieben Punkte, manche breiten sich aus,
zeigen Farbverläufe und wachsen zu großen Fetzen heran. Immer mehr
erscheint es ihm jetzt, als ob es Löcher wären, die sich in das
Himmelsgewölbe fressen. Ein besonders großer Riss hört gar nicht mehr
auf zu wachsen. Überwiegend ist er blau, mit Sprenkeln verschiedenster
Farben.
Langsam verschiebt sich seine Wahrnehmung, und ihm wird klar was er
sieht. Inseln. Wie durch ein dunkles Tuch in das jemand viele kleine
Löcher gestochen und dann ein großes Stück herausgerissen hat liegt
über ihm, in Teilen sichtbar, das was eigentlich unter ihm sein sollte:
Die Welt, Eressea.
Er war immer gut in Geographie, daher dauert es nicht lange bis er das Stück im großen Riss zuordnen kann, auch wenn nie ein Angehöriger seines Volkes dort gewesen ist. Aber was ihn mehr interessiert sind die kleinen Löcher darüber, nahe seiner Heimat. Serpens Maior liegt hinter undurchdringlichem Schwarz, aber einige der anderen Punkte müsste man doch mit ein paar einfachen Berechnungen lokalisieren können. Manche sind groß genug um Teile der Inselumrisse erahnen zu können. Ist das nicht.... er kneift die Augen zusammen und versucht die Details zu erkennen, als ein Schauer seinen Rücken hinabläuft. Eiskalt, und hart. Hart? Was ist hart? Plötzlich fühlt er wieder den Boden unter sich, hört den vertrauten Klang des Meeres, er riecht das Salz und spürt wie der nasse Wind die Kälte in seinen Körper treibt. Gleichzeitig schließen sich die Löcher über ihm, die Farben werden verschluckt und ersetzt durch den wieder auftauchenden gewöhnlichen monochromen Sternenhimmel.
Er fühlt sich betrogen. Er war kurz davor etwas herauszufinden. Etwas wichtiges. Nein, das stimmt nicht. Nicht nur etwas. ALLES. Er versucht sich zu erinnern, aber er kann fast nichts festhalten. Viele kleine Löcher und ein großes hinter der Barriere. Die Fakten bleiben, aber das Bild, das Gefühl, die Welt, verschwindet. Er steht auf und blickt sich um. Die Schemen der Landschaft sind wieder erkennbar, weite leere Schneeflächen in alle Richtungen. Es ist immer noch Nacht, der Position der Sterne nach ist kaum Zeit vergangen, aber der Ort hat sich verändert. Es ist zu kalt und einsam. Er braucht jetzt unbedingt ein Zeichen von Leben, selbst das überfüllte Feldlager würde er der Leere hier vorziehen.
Eine Welle von Wärme lässt ihn herumfahren und zusammenzucken. Kaum einen Meter hinter ihm steht Tara, jüngstes Mitglied ihres Ordens. Sie sieht aus, als wäre sie gerade aus Le Rois Bett gefallen. Barfuß, mit ungebändigtem Haar, in einem mit Lilien besetzten Nachthemd.
In ihrer rechten Hand kreist unruhig ein Flammenschwert, während sie sich umsieht. "Du bist allein." stellt sie fest. "Das ist gut." "Hast du das auch gesehen", bricht es aus ihm heraus. "Was war das? Was hat es zu bedeuten?" Sie wirft ihm einen rätselhaften Blick zu. "Alle haben es gesehen. Alle deren Augen hinter die Schleier zu blicken vermögen. Keiner weiß warum du es auch gesehen hast." Er hört keine Arroganz in der Bemerkung, eher Verwunderung, aber dennoch fühlt er sich gleich deutlich zurechtgestutzt. "Zum Glück warst du hier draußen und konntest noch mit niemandem darüber reden.", fährt sie fort. "Jetzt komm, die anderen warten." Sie streckt ihm die linke Hand entgegen. Er hat die Geschichten über den Orden gehört, aber er hat sie nie geglaubt, es gab keinen Grund. Seit Jahren begleiten ihn Emilie und später auch Tara auf seinen Missionen. Sie haben mehr als einmal bewiesen, dass sie kompetente Agentinnen sind und sich den Respekt der Truppe verdient. Sie haben ihm berichtet und manchmal kluge Vorschläge gemacht. Das Kommando des Expeditionskorps lag aber immer bei ihm, nur er kannte alle Befehle und Informationen. Zumindest dachte er das bis eben.
Das Schwert wippt jetzt ungeduldig in ihrer Hand. Ein Flammenschwert! Seit wann besitzen die Maîtres ein gottverdammtes Flammenschwert? Was hat er schon für eine Wahl. Er ergreift ihre Hand, die Luft blinzelt einmal kurz und sie sind verschwunden.
von Argelas